Zur Frage der Ernährung im "Ostarbeiter-Kinderheim" Wiemersdorf

Der oben bereits erwähnte Pastor Hofmann aus Bad Bramstedt machte bei seinen Nachforschungen „eine heute 80-Jährige [Frau] aus Wiemersdorf ausfindig, die heute in Frankreich lebt, und die sich daran erinnerte, wie eines Nachts die russische Erzieherin des Kinderheims an die Tür ihres Elternhauses klopfte und um Milch und Medikamente bettelte.“ So stand es am 24. Januar 2018 online in den Lübecker Nachrichten. Durch Nachfrage bei Pastor Hofmann konnte geklärt werden, dass es sich bei der erwähnten Frau um die Tochter des damaligen Meieristen Wilhelm Glindemann gehandelt hat.[25] Das heißt also, dass die „Kinderpflegerin“ sich zusammen mit den Kleinstkindern in einer Notsituation befunden hat und sich nicht anders zu helfen wusste, als in der örtlichen Meierei vorstellig zu werden und dort um Hilfe zu bitten. Diese Hilfe ist aber offensichtlich nicht gewährt worden: Der Dorfarchivar Klaus Harder deutete zuletzt an, dass „die Meiereigenossenschaft Wiemersdorf (möglicherweise auf Drängen des Bürgermeisters Hans Schümann) den polnischen Eltern Milch für ihre Kinder verweigert“ habe.[26]

Dieses Menschen verachtende Verhalten war keine auf Wiemersdorf beschränkte Eigenschaft; es war reichsweit zu beobachten und veranlasste den SS-Gruppenführer Hilgenfeldt sich in einem Schreiben vom 11. August 1943 direkt an Himmler zu wenden. Hilgenfeldt hatte ein „Säuglingsheim“ besichtigt und festgestellt, „dass sämtliche in dem Heim befindlichen Säuglinge unterernährt sind. Wie mir SS-Oberführer Langoth mitteilte, werden auf Grund einer Entscheidung des Landesernährungsamtes dem Heim täglich nur ½ l Vollmilch und 1 ½ Stück Zucker für den einzelnen Säugling zugewiesen. Bei dieser Ration müssen die Säuglinge nach einigen Monaten an Unterernährung zugrunde gehen. Es wurde mir mitgeteilt, dass bezüglich der Aufzucht der Säuglinge Meinungsverschiedenheiten bestehen. Zum Teil ist man der Auffassung, die Kinder der Ostarbeiterinnen sollen sterben, zum anderen Teil der Auffassung, sie aufzuziehen. Da eine klare Stellungnahme bisher nicht zustande gekommen ist und, wie mir gesagt wurde, man das Gesicht gegenüber Ostarbeiterinnen wahren wolle, gibt man den Säuglingen eine unzureichende Ernährung, bei der sie, wie schon gesagt, in einigen Monaten zugrunde gehen müssen.“[27]

Der angeschriebene Heinrich Himmler reagierte am 14. September 1943 schriftlich und stellte fest: „Nach meiner Ansicht ist es nicht vertretbar, den Müttern dieser Kinder gegenüber lediglich ‚das Gesicht zu wahren‘, so dass die Kinder durch die unzureichende Ernährung zugrunde gehen. Wenn wir schon durch die Einrichtung eines solchen Heimes die Frage im positiven Sinne anfassen, müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass die Kinder aufgezogen werden können.“ Abschließend forderte Himmler den angeschriebenen „Parteigenossen Eigruber“ auf, ihm mitzuteilen, „auf welche Weise Sie hier Abhilfe schaffen können.“[28] Der Prozess der Entscheidungsfindung in dieser Angelegenheit verzögerte sich noch bis zum 6. Januar 1944: Das Reichsernährungsministerium gab einen neuen Erlass heraus und gestand ein, dass die bisherigen Rationen zur „ordnungsgemäßen Versorgung“ der Kinder, die in „Pflegestätten“ untergebracht waren, nicht ausreichten. Kinder unter einem Jahr sollten jetzt täglich Brot bzw. Weizenmehl (115 g), Butter (14 g), Nährmittel (35 g), Zucker (43 g), Tee-Ersatz (1 g), Vollmilch (0,5 l) und Kartoffeln (350 g) erhalten.[29] Das Leben von Henry Hetner konnte durch diese scheinbare Verbesserung in der Ernährungsfrage nicht mehr gerettet werden. Er starb einen Tag vor diesem Erlass im „Ostarbeiterkinderheim“ in Wiemersdorf.

 

Die verstorbenen Kinder des "Ostarbeiter-Kinderheims" Wiemersdorf

Wir wissen nicht, wie viele Kinder das „Kinderheim“ in Wiemersdorf durchlaufen haben, wir wissen aber, dass 16 dieser Kinder verstorben sind (11 davon in Wiemersdorf, 4 in Neumünster und eins in Alveslohe):

 

Die Todesursachen und Beerdigungen

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© Uwe Fentsahm (Brügge, Juni 2020)


[25]  Glindemann war von 1936 bis 1954 Betriebsleiter der Meierei in Wiemersdorf, in: Chronik „Unser Wiemersdorf“ (wie Anm.1), S.185.

[26]  Äußerung von Klaus Harder gegenüber Frank Starrost (Wiemersdorf) am 28. September 2019.

[27]  Das (geheime) Schreiben Hilgenfeldts vom 11. August 1943 ist vollständig abgedruckt bei Raimond Reiter: Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg, Hannover 1993, S.249 f.

[28]  Das (geheime) Schreiben Himmlers an Eigruber vom 14. September 1943 ist vollständig abgedruckt bei Raimond Reiter (wie Anm.17), S.248 f.

[29]  Bernhild Vögel: „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“, Braunschweig, Broitzemer Straße 200, Hamburg 1989, S.42.

[30]  Geburtsurkunde für Henry Hetner (Standesamt Kaltenkirchen Nr. 141/43). Sterbeurkunde für Henry Hetner (Standesamt Wiemersdorf, Nr. 1/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über Genovefa Hetner und Meldekarten der Gemeinde Wiemersdorf in den Arolsen Archives (Nr. 10003495, 10003519 und 75893141).

[30a]  Sterbeurkunde für Paul Burenina (Standesamt Kaden in Alveslohe Nr. 15/44)

[31]  Geburtsurkunde für Heinrich Wladislaw Pawlowska (Standesamt Neumünster Nr. 650/44). Sterbeurkunde für Heinrich Wladislaw Pawlowska (Standesamt Wiemersdorf, Nr. 15/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über Stanislawa Pawlowska (Nr. 10001501 und 10001513).

[32]  Geburtsurkunde für Johann Marciniak (Standesamt Gadeland Nr. 31/44). Sterbeurkunde für Johann Marciniak (Standesamt Wiemersdorf, Nr. 17/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[33]  Sterbeurkunde für Ewgenij Kasakowzew (Standesamt Wiemersdorf, Nr. 761/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[34]  Geburtsurkunde für Julek Polzik (Standesamt Weddelbrook Nr. 2/44). Sterbeurkunde für Julek Polzik (Standesamt Wiemersdorf, Nr. 19/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[35]  Sterbeurkunde für Jenni Smoljakowa (Standesamt Neumünster Nr. 836/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[36]  Geburtsurkunde für Janina Posluschny (Standesamt Bad Segeberg Nr. 117/44). Sterbeurkunde für Janina Posluschny (Standesamt Wiemersdorf, Nr. 20/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[37]  Geburtsurkunde für Stanislaus Watczyk (Standesamt Neumünster Nr. 418/44). Sterbeurkunde für Stanislaus Watczyk (Standesamt Wiemersdorf, Nr. 22/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[38]  Geburtsurkunde für Irene Gryglak (Standesamt Wiemersdorf Nr. 23/44). Sterbeurkunde für Irene Gryglak (Standesamt Wiemersdorf, Nr. 24/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[39]  Geburtsurkunde für Jan Stanisch (Standesamt Bad Segeberg Nr. 79/44). Sterbeurkunde für Jan Stanisch (Standesamt Wiemersdorf, Nr. 25/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[40]  Geburtsurkunde für Irene Mesjasz (Standesamt Neumünster Nr. 273/44). Sterbeurkunde für Irene Mesjasz (Standesamt Wiemersdorf, Nr. 23/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[41]  Geburtsurkunde für Beruta Briganska (Standesamt Bad Segeberg Nr. 128/44). Sterbeurkunde für Beruta Briganska (Standesamt Neumünster, Nr. 1187/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[42]  Geburtsurkunde für Anna Czajlawska (Standesamt Kaltenkirchen Nr. 231/43). Sterbeurkunde für Anna Czajlawska (Standesamt Neumünster, Nr. 1568/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[43]  Geburtsurkunde für Ella Wowk (Standesamt Kaltenkirchen Nr. 168/43). Sterbeurkunde für Ella Wowk (Standesamt Wiemersdorf, Nr. 31/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[44]  Geburtsurkunde für Nina Busum (Standesamt Neumünster Nr. 5/45). Sterbeurkunde für Nina Busum (Standesamt Wiemersdorf, Nr. 15/44). Unterlagen der AOK Bad Segeberg über

[45]  Akte 0251 „Verstorbene Ausländer“ (Stadtarchiv Neumünster).