Der Standort des „Ostarbeiter-Kinderheimes“ in Wiemersdorf

Karl-Heinrich Delfs hatte 2013 berichtet, dass Bürgermeister Schümann „unter den Fremdarbeitern geborene Säuglinge in ein Ziegeleigebäude“ bringen ließ.[13] Hier kann es sich nur um ein Nebengebäude auf dem Gelände der alten Ziegelei (im heutigen Ziegeleiweg) in Wiemersdorf gehandelt haben. Die Ziegelei war seit 1888 in den Händen der Familie Jörck. 1935 übernahm Heinrich Jörck den Betrieb[14], wurde aber im Verlauf des zweiten Weltkrieges eingezogen und der Ziegeleibetrieb soll stillgelegt worden sein.[15] Somit befand sich das Gebäude des „Kinderheims für ausländische Kinder“ 1943 abgeschieden am nordwestlichen Ortsrand von Wiemersdorf: mit viel Publikumsverkehr war hier nicht zu rechnen. Was hier geschah, konnte einer (lieber wegschauenden) Öffentlichkeit aber nur scheinbar verborgen bleiben. Ortsansässige sind der Meinung, dass das Gebäude heute noch vorhanden ist:

 

Das Gebäude des ehemaligen "Ostarbeiter-Kinderheimes" im Ziegeleiweg in Wiemersdorf.

(Foto Inken Schlüter, Bordesholm)

Ulrich Herbert hatte 1985 als einer der ersten Historiker über „Ausländerkinder-Pflegestätten“ berichtet und war der Ansicht: „Während in städtischen und industriellen Gebieten solche „Pflegestätten“ 1944 bereits in größerer Zahl vorhanden waren, fehlten sie auf dem Lande noch weitgehend.“[16] Wiemersdorf wäre in dieser Hinsicht ein Gegenbeispiel.

 

Drei „Kinderpflegerinnen“ in Wiemersdorf (1943/45)

Helena Rybak (oder Ruback, Robak, Roback) ist diejenige „Kinderpflegerin“ gewesen, die am 30. März 1944, am 3. September 1944 und am 25. September 1944 in der Verwaltung des damaligen Amtes Wiemersdorf erschienen ist und jeweils den Tod eines Kindes aus dem örtlichen „Kinderheim“ angezeigt hat.[17] Sie war bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Bad Segeberg krankenversichert und galt dort „als bei Hermann Reimers in Wiemersdorf beschäftigt“. Entsprechende Akten gibt es beim International Tracing Service (ITS) in Bad Arolsen, eine Einsichtnahme durch Historiker ist allerdings bisher noch nicht möglich, da die AOK Schleswig-Holstein eine entsprechende Genehmigung verweigert.[18] ist anzunehmen, dass Helena Rybak nach der Eröffnung des „Ostarbeiterinnen-Kinderheims“ Ende 1943 als erste Pflegekraft für diese Einrichtung abgestellt worden ist.

Es gibt eine Meldekarte für die damals 26jährige Frau Rybak, aus der hervorgeht, dass sie 1941 in Nützen beschäftigt worden ist und am 8. September 1943 in Kaltenkirchen einen Sohn namens Franz geboren hat. Eine entsprechende Geburtsurkunde ist auch überliefert.[19] Am 20. September 1943 soll sie dann „unbekannt verzogen“ sein. Das ist ein Hinweis darauf, dass der bisherige Arbeitgeber von Helena Rybak in Nützen nicht mehr bereit war, sie zu beschäftigen, da ja jetzt ein Kleinkind mitversorgt werden musste und zusätzliche Kosten verursachte. In solchen Fällen erfolgte seit 1943 zumeist eine „Umvermittlung“ von Mutter und Kind an einen Ort, in dem es eine der neugeschaffenen „Ausländerkinder-Pflegestätten“ gab. Im Kreis Segeberg war Wiemersdorf als Standort für so eine Einrichtung festgelegt worden. Auf der Meldekarte für Helena Rybak ist als Arbeitgeber in Wiemersdorf zunächst Hermann Reimers vorgesehen gewesen. Der Name wurde aber wieder durchgestrichen und durch das Wort „Ostarbeiterinnen-Kinderheim“ ersetzt. Es ist anzunehmen, dass das Heim im Herbst 1943 gerade eingerichtet worden war und noch eine „Kinderpflegerin“ benötigt wurde. Franz Rybak hatte das Glück, dass seine Mutter offensichtlich dauerhaft im Heim anwesend war und er die Monate bis zum Ende des Krieges lebend überstanden hat.

Sabina Drozdzowski (oder Droschdowskij, Droschdowki) war 1943 als 22jährige dem Bauern Willi Bauer in Hagen (westlich von Wiemersdorf) als Zwangsarbeiterin zugewiesen worden. Das Gleiche gilt für ihren Mann Josef Drozdzowski, der damals 23 Jahre alt war und auch bei Willi Bauer in Hagen arbeiten musste.[20] Am 19. November 1943 wurde ihr Sohn Edward in Hagen geboren und Frau Drozdzowski musste offensichtlich anschließend Hagen verlassen und ist mit ihrem Sohn (ohne ihren Mann) nach Wiemersdorf als „Kinderpflegerin“ ins „Ostarbeiter-Kinderheim“ umvermittelt worden. Es ist anzunehmen, dass Willi Bauern in Hagen nicht bereit war, die zu erwartenden höheren Versorgungskosten für eine dreiköpfige Zwangsarbeiterfamilie zu tragen. Es gibt jedenfalls eine AOK-Akte, aus der hervorgeht, dass Sabina Drozdzowski jetzt „bei der Gemeinde Wiemersdorf beschäftigt“ wurde.[21] Mutter und Sohn werden somit im neu errichteten Kinderheim im Ziegeleiweg untergebracht worden sein. Edward hatte (ebenso wie Franz Rybak) das Glück, dass seine Mutter ständig anwesend war und er so die Zeit in dem Heim lebend überstanden hat. Am 27. Februar 1945 hat Sabina Drozdzowski in Wiemersdorf noch eine Tochter namens Wanda zur Welt gebracht. Es ist anzunehmen, dass die Entbindung im „Ostarbeiter-Kinderheim“ stattfand. Wanda gehörte auch zu den Glücklichen, die ihren Aufenthalt in diesem Heim überlebt haben.[22]

Im Stadtarchiv von Neumünster befindet sich eine Akte mit den Namen von mehreren Tausend Personen aus dem Ausland, die während des zweiten Weltkrieges aus den von deutschen Truppen besetzten Gebieten ins Alt-Reich zur Zwangsarbeit deportiert worden sind. Unter ihnen befindet sich mit der Nummer 6056 die als „Ostarbeiterin“ bezeichnete Nadeschda Rostowsky. Vom Arbeitsamt wurde hinter ihrem Namen vermerkt, dass sie am 22. August 1944 in Neumünster angekommen sei und am 6. September 1944 ihren Arbeitseinsatz im „Kinderheim für ausländische Kinder“ in Wiemersdorf angetreten habe.

Nadeschda war damals noch nicht einmal 15 Jahre alt. Sie ist zusammen mit ihren Eltern Danilo und Praschka Rostowsky nach Wiemersdorf verschleppt worden. Die Eltern von Nadeschda wurden als Zwangsarbeiter bei „Hans Schümann + Jö[r]ck“ eingesetzt. Sie mussten also für den Bürgermeister arbeiten. Der Vater Danilo war damals 48 Jahre alt und hatte die Arbeitskartennummer 6052 bekommen, die Mutter Braschka war 49 Jahre alt und bekam die Nummer 6055.[23]

 

 

 

 

Es gibt noch eine Meldekarte, die wahrscheinlich von der Gemeinde Wiemersdorf geführt wurde: Hier heißt es über die am 26. September 1929 geborene und aus Russland stammende „Arbeiterin“ Nadeschka Rostowska, sie sei am 23. August 1944 zugezogen und am 6. September 1944 „unbekannt“ verzogen. In den AOK-Unterlagen ist jedenfalls vermerkt, dass Nadeschda „bei der Gemeinde Wiemersdorf beschäftigt“ wurde. Genaueres könnte ermittelt werden, wenn die AOK-Unterlagen vollständig zugänglich wären. Wir können aber trotzdem davon ausgehen, dass das Mädchen Nadeschda als dritte Pflegekraft im „Ostarbeiter-Kinderheim“ eingesetzt worden ist.[24]

 

 

Die Frage der Ernährung und die verstorbenen Kleinkinder

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© Uwe Fentsahm (Brügge, Juni 2020)


[13]  Wie Anm.3.

[14]  Chronik „Unser Wiemersdorf“ (wie Anm.1), S.176. Die Nachforschungen von Frank Starrost haben ergeben, dass Heinrich Jörck wohl erst mit Beginn des Jahres 1941 die Verantwortung für die Ziegelei von seinem Vater übernommen hat: Bis 1940 wurde die vom Finanzamt festgesetzte Grundsteuer von Martin Jörck erhoben, danach von dem Ingenieur Heinrich Jörck.

[15]  So wurde es dem Bad Bramstedter Pastor (i.R.) Bernd Hofmann von Ortsansässigen berichtet.

[16]  Ulrich Herbert: Fremdarbeiter, 2. Auflage, Berlin-Bonn 1986, S.249.

[17]  Sterbefallanzeigen für Stanislaus Watczyk (30.3.1944), Johann Marciniak (3.9.1944) und Julek Polzik (25.9.44) im Standesamt Bad Bramstedt-Land.

[18]  Arolsen Archives Nr. 10003519 und 10003567.

[19]  Arolsen Archives Nr. 75893184 und 77033925.

[20]  AOK Bad Segeberg in: Arolsen Archives Nr. 10002819 und 10003519.

[21]  Die Geburtsurkunde für Edward und die AOK-Akte für Sabina Drozdzowski in: Arolsen Archives Nr. 76948283 und 10003231.

[22]  Die Geburtsurkunde für Wanda Drozdzowski in: Arolsen Archives Nr. 66932673.

[23]  Stadtarchiv Neumünster, Akten 4683 und 3125.

[24]  Die Meldekarte und die AOK-Unterlagen in: Arolsen Archives Nr. 75893169 und 10003231.