Ankunft in Kiel-Hassee

Die Ereignisse von Mühbrook haben nicht nur zu einer weiteren Verunsicherung und zu Panikerscheinungen bei den Häftlingen geführt. Allem Anschein nach zeigte sich auch die Wachmannschaft zunehmend demoralisiert. Es waren nach Aussage von Hennings sogar deutliche Auflösungserscheinungen zu beobachten, denn einige Wachmänner hatten sich in der zurückliegenden Nacht geweigert, ihren Dienst zu versehen. Er wusste auch warum: „They wanted to have something to eat; some of the prisoners tried to get away and these prisoners wanted to overpower the guards.“ Anstatt die Sinnlosigkeit des ganzen Unternehmens zu erkennen und den Transport möglichst friedlich aufzulösen, sah Hennings sich auch weiterhin verpflichtet, die Gruppe geschlossen nach Kiel zu bringen. Sein größtes Problem habe in dieser Situation darin bestanden „respektiert“ zu werden. Deshalb sei es auch durchaus möglich, dass er zur Abschreckung folgende Parole ausgegeben habe: „Who runs away will be shot dead.“[84]

Diese Vorgehensweise war aus der Sicht des Angeklagten sehr erfolgreich, denn auf dem restlichen Weg nach Kiel habe es keine weiteren Vorkommnisse gegeben. Der Mitangeklagte Johann Hahn konnte diese Angaben bestätigen und schilderte noch etwas ausführlicher, was er nach der Ankunft in Kiel-Hassee gemacht habe: „I compiled [zusammenstellen] a list showing the casualities we had suffered [erdulden] on the march. I handed this list over to Hennings. He in turn made a report to the commandant [Post] and we handed the prisoners over.“[85]

Hennings war sich bei seiner Befragung durch das Gericht nicht mehr sicher, ob von den ehemals 197 Gefangenen noch 189 in Kiel angekommen seien, es könnten auch nur noch 185 gewesen sein. Die Anzahl der Toten war ebenfalls umstritten: Hennings ging davon aus, dass es fünf Tote gegeben habe. Hahn erinnerte sich an sechs Erschossene und an eine Person, die eines natürlichen Todes gestorben sei.[86] Der Verfasser glaubt mit den obigen Ausführungen nachgewiesen zu haben, dass aus der Gruppe von Hennings (mindestens) sieben Personen ermordet worden sind. Hinzu kommen (mindestens) zwei Tote, die zur Marschkolonne von Schütte gehört haben.

Aus der Sicht der Häftlinge gestaltete sich der letzte Teil des Marsches nicht so problemlos, wie es von den Angeklagten behauptet wurde. Kurt Ewald gab dieszüglich zu Protokoll: „Wir waren am Ende des Marsches alle in sehr schlechter Verfassung.“ Von Hilde Sherman wissen wir zwar nicht, in welcher Kolonne sie mitmarschiert ist. Aber von ihr haben wir eine eindringliche Beschreibung der unmenschlichen Strapazen, denen die Gefangenen ausgesetzt waren. Die letzte Nacht hatte man „in einer kleinen Ortschaft mit einem kleinen Teich“ [Mühbrook] verbracht: „Am nächsten Morgen begann die SS zu brüllen 'Im Gleichschritt marsch'. ... Sie trieben uns durch einen Steinbruch, es war ein halsbrecherischer Abstieg. Ohne Weg noch Steg ging es talwärts. Frau Katz aus Kassel fiel hin und konnte nicht mehr aufstehen. Wir hoben sie auf und schleppten sie abwechselnd zu zweit und zu dritt mit uns, so gut wir konnten. ... Sie hatte einen doppelten Oberschenkelbruch, wie sich später in Schweden herausstellte. Vor uns, am Ufer eines Sees, lag das Lager: eine große neue Barackenstadt, umgeben von Wachttürmen, das Arbeitserziehungslager Kiel-Hassee. Alles war uns gleichgültig. Das mußte die Endstation sein, so oder so. Wir konnten nicht mehr. Wir waren fertig.“[87]

Viele der Neuankömmlinge ahnten sicherlich, dass die Qualen, die sie bisher erlitten hatten, noch längst nicht beendet waren. Lagerkommandant Post notierte noch am 23. April 1945: „Je schwieriger die Lage wird und je näher der Feind rückt, desto mehr Disziplin muß bei der Wachkompanie herrschen. Bei Widerstand seitens der Häftlinge, rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch machen, ebenso bei Fluchtversuch. Es darf aber nicht dazu führen, daß die Wachmänner, ohne vorher eine Prüfung vorzunehmen, einfach alles totschießen.“ Letzteres scheint bereits zu einem Problem geworden zu sein, denn in den letzten drei Wochen - bis zum fluchtartigen Verlassen des Lagers durch die Lagerleitung und die Wachmannschaften - sind noch weit mehr als 100 Menschen ermordet worden.[88]

Das weitere Schicksal der Täter

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[84] Befragung von Hennings, in: WO 235/409 (S.56).

[85] Befragung von Hahn, in: WO 235/409 (S.121).

[86] Vernehmungsprotokoll Hennings, in: WO 235/410 (Exhibit 12) und Befragung von Hennings, in: WO 235/409 (S.57).

[87] Sherman, S.130. Weitere, sehr erschütternde Berichte von Inhaftierten über die menschenunwürdigen Umstände im AEL Kiel-Hassee bei Korte, S.197 ff.

[88] Korte, S.206 und S.268.