Mühbrook (Sonntag, 15. April 1945)

Am nächsten Morgen wiederholten sich die Ereignisse wie gewohnt: Hennings stieg um 6.00 Uhr morgens auf den Strohboden und konnte mehrere Häftlinge nicht finden. Er ließ die gesamte Gruppe draußen auf der Straße zum Zählappell antreten und vermisste immer noch vier Gefangene: „Farmer Lütje as well as a women who owned the place oposite requested me to search for the prisoners as they were scared [verängstigt] of them. Lütje put pitchforks at our disposal and himself took part in the search action.“[78]

Lütje war am Sonntagmorgen erst vom Dienst nach Hause gekommen, als die Gefangenen bereits auf der Straße versammelt waren. Nach seinem Bericht konnten beim Suchen auf dem Strohboden drei Gefangene gefunden werden, von denen einer durch die Wachmänner schwer misshandelt wurde. Lütje verließ den Boden, da er nicht weiter in den Vorfall verwickelt werden wollte. Unten angekommen informierte er Hennings und dieser soll wutentbrannt mit den Worten an ihm vorbeigegangen sein: „Und dann knallt's noch nicht“? Anschließend fiel ein Schuss, Lütje drehte sich um und wusste sofort, dass nur Hennings geschossen haben konnte: „Als [einer der Gefangenen] von dem Transportführer erschossen wurde, war er schon auf der Erde, denn ich sah noch, wie die Pistole des Transportführers auf den an der Erde liegenden Häftling zeigte.“[79]

Wilhelm Hennings stritt nicht ab, dass er geschossen hatte. Aus seiner Sicht gab es sogar eine ganz einleuchtende Erklärung dafür, denn ein Gefangener sei ihm aus einer Bodenluke direkt vor die Füße gesprungen: „He had a shiny object in his hand, and as he came towards me I immediately fired.“ Das glänzende Objekt will Hennings für ein Messer gehalten haben. Er sah nicht nur sein Leben bedroht, sondern will auch einen Fluchtversuch dieses Häftlings erkannt haben. Deshalb sei die ganze Aktion als Notwehrsituation zu werten. Für Dr. Block, den Verteidiger von Hennings, war wiederum wichtig, dass es sich bei dem Todesopfer nicht um einen Angehörigen der alliierten Nationen handelte, sondern um einen Deutschen, den SS-Panzergrenadier Christian Berg.[80] Inwieweit das Gericht dem Angeklagten Hennings diese Version der Ereignisse abgenommen hat, ist schwer zu beurteilen.

Von den drei auf dem Strohboden gefundenen Gefangenen waren nach Lütjes Aussage zwei (zunächst) unbehelligt auf der Straße angekommen und hatten versucht, sich in die Marschkolonne einzureihen: „Sowie die Wachmannschaft von dem Boden zu der Kolonne kam, wurde einer dieser [beiden] Häftlinge aus der Kolonne mit Schlagen und Kolbenstößen gejagt und wurde von einem flämischen Wachmann gezwungen, sich an eine Steinmauer hinzuhocken. Er wurde dann vor der Öffentlichkeit, vor 5 oder 6 Kindern, unter denen sich mein 4 jähriges Mädchen befand, von diesem SS-Mann erschossen. Der Transportführer befand sich auch auf der Straße, gab aber nicht den Befehl zur Erschießung, verhinderte aber auch den Flamen nicht dabei.“ Bei diesem Opfer soll es sich um den russischen Staatsangehörigen Gregori Makarow gehandelt haben.

Hinrich Lütje will Hennings nach diesen Vorfällen darauf aufmerksam gemacht haben, dass es dessen Pflicht wäre, den Beerdigungsbefehl für die beiden Toten zu geben. Daraufhin hätte Hennings angeordnet, die Leichen auf dem Hof von Schurbohm „hinter einen Holzhaufen“ zu legen und die örtliche Polizeistation zu informieren. Das Letztere war wieder die Aufgabe von Johann Hahn, der nach Bordesholm fuhr und dort dem Polizeiwachtmeister Barglinski einen schriftlichen Bericht über die Vorfälle ablieferte: „Der Untersuchungsgefangene Makarow Gregori, geboren am 31.12.1925 und der SS-Panzergrenadier Berg Christian sind am 15.4.1945 wegen Fluchtversuchs und Widerstands erschossen worden. Beide gehörten dem Transport von Hamburg-Fuhlsbüttel nach Russee-Kiel an. Die beiden Leichen befinden sich in Mühbrook auf dem Grundstück des Landwirts Schurbohm.“[81]

Frau Schurbohm war ebenfalls vom Gericht als Zeugin vorgeladen worden. Sie konnte bestätigen, dass die beiden Erschossenen zunächst auf ihrem Grundstück an einen Holzhaufen gelegt worden waren. Dieser Hinweis war für den Verteidiger von großer Bedeutung, denn in mehreren Berichten von Augenzeugen hieß es, dass die Leichen auf einen Misthaufen geworfen worden waren. Dr. Block stellte dagegen fest, dass das Gericht aufgrund der Aussage der Zeugin Schurbohm mit „absoluter Sicherheit“ davon ausgehen könnte, dass es in Mühbrook zum einen keine weiteren Exekutionen gegeben habe und dass zum anderen „the corpses were not thrown on the dung-heap, as the witness Schulz stated, but where laid down near the wood-pile on her farm-yard“.

Für den Polizeiwachtmeister Stanislaus Barglinski aus Bordesholm war der gesamte Vorgang mit viel Schreibarbeit verbunden. Er informierte noch am selben Tag das Amtsgericht in Neumünster und bat um eine Beerdigungserlaubnis. Die Leichen waren von ihm in Mühbrook „beschlagnahmt“ und mit einem Fuhrwerk nach Bordesholm in die dortige Leichenhalle überführt worden. Der Landrat in Rendsburg erhielt ebenfalls eine Mitteilung und die nähere Information: „Nach Aussage des Bauern Lüthje in Mühbrook erfolgte das Umlegen der Gefangenen auf der Ortsstraße in Mühbrook vor seinem Gehöft im Beisein einer Anzahl Kinder und ausländischer Arbeiter. Unter der Bevölkerung herrscht deshalb eine große Erregung . Der Transport bestand aus ungefähr 200 Gefangenen und 20 Begleitern.“ Detlef Korte hat bereits auf die Vieldeutigkeit dieser Formulierung hingewiesen: Wie wäre das „Umlegen der Gefangenen“ zu beurteilen, wenn es nicht in der Öffentlichkeit stattgefunden hätte? Da das Amtsgericht in Neumünster sich nicht umgehend äußerte, wurden die Leichen nach einigen Tagen ohne Beerdigungserlaubnis auf dem Friedhof in Bordesholm beigesetzt. Der ortsansässige Tischlermeister Reese hatte eine „einfache Einsargung“ vorgenommen.[82]

Für den Bauern Hinrich Lütje hatte das Ganze noch ein Nachspiel. Er wurde nach eigener Aussage am 26. August 1945 verhaftet und in Neumünster-Gadeland (C.I.C. [Civil Internment Camp] No.1) zusammen mit mehreren Tausend anderen Personen interniert: „Während meiner Internierung traf ich bei einer Zusammenlegung der Kriminellen den oben erwähnten Transportführer [Hennings]. Hieraufhin ließ ich die Sache klarstellen, wurde auch am 25.9.1946 aus der Haft entlassen.“[83] Eine sehr merkwürdige Äußerung, die bisher nicht hinreichend geklärt werden konnte: Lütje ist offensichtlich mit Hennings zusammengetroffen. Als Orte des Zusammentreffens kommen wohl nur die Internierungslager Neumünster und/oder Neuengamme in Frage. Die beiden haben die Möglichkeit gehabt ihre Aussagen abzusprechen. Gegen Lütje bestand damals ein Anfangsverdacht, aktiv an den Erschießungen und Misshandlungen in Mühbrook beteiligt gewesen zu sein. Diese „Sache“ hat er klarstellen lassen, vielleicht dadurch, dass Hennings die Beteiligung von Lütje auf das Zurverfügungstellen von Mistforken und die Suche nach den verschwundenen Gefangenen reduziert hat. Im Gegenzug könnte Lütje dem Hennings versprochen haben, in seiner Aussage die Möglichkeit einer Notwehrsituation beim Erschießen des Christian Berg als naheliegend erscheinen zu lassen. Hennings wird auch Wert darauf gelegt haben, dass er für den Tod des Deutschen Berg und nicht für den Tod des Russen Makarow verantwortlich gemacht wurde.

Ankunft in Kiel-Hassee

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[78] Befragung von Hennings, in: WO 235/409 (S.55).

[79] Aussage von Lütje am 22.5.1947 in Einfeld, in: WO 309/1154 und Befragung von Lütje vor Gericht, in: WO 235/407 (S.33).

[80] Abschlussplädoyer von Dr. Block für Hennings, in: WO 235/411 (S.18) und Befragung von Hennings, in: WO 235/409 (S.55).

[81] WO 235/410 (Exhibit 5).

[82] ebd.; vgl. hierzu auch Korte, S.196 und Hoch, S.312.

[83] Aussage von Lütje am 22.5.1947 in Einfeld, in: WO 309/1154.