Dorotheental (Sonnabend, 14. April 1945)

Über Bad Bramstedt und Wiemersdorf war man nach Dorotheental (in Höhe der heutigen Autobahnabfahrt Großenaspe) gelangt, wo der Bauer Kolster auf seinem Hof Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt hatte. Die Gruppen wurden nach Aussage von Hennings gut versorgt und während des dortigen Aufenthalts habe es keine besonderen Vorkommnisse gegeben. Ein Marschteilnehmer will zwar in der Nacht ein paar Schüsse gehört haben, doch der Zeuge Kolster hatte mit Bestimmtheit ausgesagt, dass während der ganzen Zeit auf seinem Hof keine Schüsse gefallen seien. Aber vier Gefangenen sei es gelungen zu fliehen. Für den Verteidiger von Hennings war die Aussage von Kolster sehr wichtig: „His statement, that the treatment of the prisoners was correct, is essential as he is a person not involved in the case.“[57] Mit dieser Feststellung ist es offensichtlich gelungen, das Gericht davon zu überzeugen, dass es in Dorotheental keine weiteren Erschießungen gegeben hat.

Der Hinweis des Bauern Kolster auf die vier (erfolgreich) Geflüchteten wurde sowohl von Hennings, von Hahn und auch von Schütte bestätigt. Von einem fünften Mann, der zu fliehen versucht hatte, konnte Hennings vermelden: „I was able to catch him.“ Das Gericht hat es in diesem Fall versäumt, Hennings danach zu fragen, wie er mit dem betreffenden Häftling anschließend umgegangen ist.[58] Johann Hahn wurde jedenfalls am nächsten Morgen um 7.30 Uhr mit dem Fahrrad nach Neumünster geschickt, um den Vorfall mit den vier Entflohenen auf der dortigen Polizeidienststelle zu melden. Die Marschkolonnen verließen den Hof Kolster und setzten sich in Richtung Neumünster in Bewegung. Nach zwei Stunden war Hahn von dort zurückgekehrt und wurde über weitere Vorfälle in Kenntnis gesetzt: „I was informed by Hennings that the [Flemish] guard Voet had shot one dead.“[59]

Später stellte sich heraus, dass es sogar zwei Todesopfer gegeben hatte: Der bisher im Polizeigefängnis in Fuhlsbüttel tätige Wachtmeister Hartmann war erschossen worden, weil er unterwegs Gefangene zur Flucht ermuntert haben soll. Das zweite Opfer sei ein Gefangener gewesen, der die Aufforderung von Hartmann in die Tat umsetzen wollte. Den Tatort (Wittorferfeld) konnte Johann Hahn vor Gericht auch noch ziemlich genau beschreiben: „Fifty metres away from the main road in a wood six kilometres before you get to Neumünster and there was a mile-stone number so and so ... .“[60] Dass es sich bei dem Wachtmeister Hartmann um einen Deutschen gehandelt hat, das ist von allen Beteiligten vor Gericht immer wieder deutlich hervorgehoben worden. Die zweite erschossene Person drohte darüber in Vergessenheit zu geraten. Hinzu kam natürlich auch, dass beide Taten dem flämischen SS-Mann Voet zugeschrieben wurden. Hennings und Hahn sind dafür nicht direkt verantwortlich gemacht worden.

Es bleibt unklar, inwieweit das Gericht 1947 über die Identität des zweiten Erschossenen informiert war. Vier Jahre später hat man sich seiner jedoch in einem Artikel in der „Welt am Sonntag“ erinnert. Unter der Überschrift „So starb Maurice Sachs“ berichtete der Autor Karl Ludwig Schneider: „Bei Wittorferfeld wurden Sachs und sein Schicksalsgenosse [Hartmann] auf eine Koppel geführt und füsiliert. Der Tod des Maurice Sachs wurde auf dem Standesamt Gadeland urkundlich festgelegt. Die Eintragung trägt die Nummer 17/45 und lautet auf den Namen Maurice Ettinghausen. Als Todestag ist der 14. April angegeben. Hamburg-Fuhlsbüttel ist als der letzte Wohnort des Toten angeführt.“[61] Durch eine Nachfrage beim Standesamt in Boostedt, das inzwischen die Unterlagen des ehemaligen Standesamtes Gadeland übernommen hat, konnte die Richtigkeit der Angaben in dem Zeitungsartikel von 1951 festgestellt werden. Der Tod des Wachmanns Hartmann wurde unter der Nummer 16/45 im Sterbebuch der damals selbstständigen Gemeinde Gadeland vermerkt. Es ist anzunehmen, dass sowohl Hartmann als auch Sachs auf einem Friedhof in Neumünster beerdigt worden sind. Für Letzteren haben wir sogar den Hinweis, dass sein Grab mit der Nummer Gc 54 versehen sei.[62]

Bei Maurice Sachs handelte es sich um einen sehr umtriebigen, prinzipienlosen aber in Literaturkreisen bekannten Intellektuellen, der im Jahre 1906 in Paris als Sohn des Juweliers Herbert Ettinghausen geboren worden war. Sein Vater war Jude, vielleicht ein Grund, warum der junge Maurice den Nachnamen seiner Mutter Andrée Sachs annahm. Die Familie hatte eine besondere Beziehung zu Hamburg, da dies der Geburtsort der Großmutter von Maurice war.[63] Er selbst war nach der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen als Freiwilliger zum Arbeitseinsatz nach Hamburg gekommen und unterhielt seit 1942 zahlreiche Kontakte zu Landsleuten, die hier als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Ebenso gab es Verbindungen von Sachs zur Hamburger Weißen Rose. Seine vielfältigen Beziehungen nutzte er für die Weitergabe von Informationen an die Gestapo und sorgte somit für die Verhaftung von zahlreichen Menschen, die ihm vertraut hatten. Im November 1943 wurde Maurice Sachs dann selbst verhaftet, doch im Gefängnis in Fuhlsbüttel besaß er wiederum eine privilegierte Stellung: Die Gestapo setzte ihn bewusst als Spitzel gegenüber Mitgefangenen ein.[64]

Warum er mit auf den Evakuierungsmarsch nach Kiel-Hassee kam, ist unklar. Karl Ludwig Schneider vermutete in seinem Artikel, dass „man sich seiner, da er zuviel wusste, entledigen wollte“. Für Johann Hahn bedeuteten die Vorfälle in Wittorferfeld, dass er um die Mittagszeit ein zweites Mal nach Neumünster fahren musste, um auf der dortigen Polizeidienststelle den Tod von zwei weiteren Marschteilnehmern zu melden.

Der unbekannte Tote von Einfeld

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[57] Abschlussplädoyer von Dr. Block für Hennings, in: WO 235/411 (S.13).

[58] Befragung von Hennings, in: WO 235/409 (S.52).

[59] Befragung von Hahn, in: WO 235/409 (S.118).

[60] ebd.

[61] Der Artikel vom 4.2.1951 ist auszugsweise abgedruckt in: candidates of humanity, Dokumentation zur Hamburger Weißen Rose anläßlich des 50. Geburtstages von Hans Leipelt, hrsg. von der Vereinigung der Antifaschisten und Verfolgten des Naziregimes Hamburg e.V., Hamburg 1971, S.26 f. Vgl. auch die entsprechende Darstellung bei Hoch, S.312.

[62] Im Internet findet sich eine von Emmanuel Pollaud-Dulian verfasste Biographie des Maurice Sachs in elf Kapiteln (Paris, Mai/Juni 2001). Der Beitrag ist mit mehreren Fotos des Polizeigefängnisses Fuhlsbüttel illustriert. Der Hinweis auf die Grabnummer findet sich im letzten Kapitel.

[63] ebd.

[64] Mehrere Beiträge in der Dokumentation „candidates of humanity “ widmen sich u.a. der Person des Maurice Sachs. Siehe insbesondere die Ausführungen des ehemaligen Mitgefangenen Albert Suhr aus dem Jahre 1968 (S.42 ff.): „Maurice Sachs und die Hamburger Weiße Rose. Abschied von einem Mythos.“ Von Maurice Sachs gibt es eine bis 1939 reichende Autobiographie, die in der deutschen Ausgabe den vielsagenden Titel trägt: „Mein Leben ist ein Ärgernis“ (1. Auflage, Köln 1950).