Der unbekannte Tote von Einfeld

Im Zuge des Ermittlungsverfahrens war 1947 auch der Bürgermeister von Neumünster angeschrieben worden: Man habe gehört, dass im Raum Neumünster „verschiedene Häftlinge“ in der Mitte des Monats April 1945 erschossen worden seien. Die zugehörigen Sterbeurkunden sollten doch bitte in Abschrift übersandt werden. Oberstadtdirektor Bärwald antwortete: „Die Marschgruppen mit den Häftlingen sollen seinerzeit um die Stadt Neumünster herumgeleitet worden sein. Dem Vernehmen nach sollen beim Standesamt in Gadeland bei Neumünster Beurkundungen der in Frage kommenden Sterbefälle vorgenommen sein.“[65] Der Oberstadtdirektor zeigte mit dieser Vermutung, dass er gut informiert war. Dem Verfasser war über einen längeren Zeitraum nicht klar, warum die Häftlingskolonnen „um die Stadt Neumünster herumgeleitet worden“ sind. Dieser Hinweis findet sich auch in dem autobiographischen Bericht der Hilde Sherman: „Wir erreichten eine Stadt, Neumünster, die wir von außen umgingen.“[66]

Sollten die „Elendszüge“ aus Hamburg den Augen der städtischen Bevölkerung vorenthalten werden? Als Erklärung kommt natürlich nur die Zerstörung der Stadt durch Bombenangriffe in Frage: Am 7. April 1945 hatte es bereits 599 Todesopfer und erhebliche Zerstörungen gegeben. Doch die Luftangriffe vom 13. April, also unmittelbar vor dem geplanten Durchmarsch der Transporte aus Fuhlsbüttel, waren noch wesentlich verheerender. In einer Stadtchronik des Jahres 1945 heißt es dazu: „Ein Passieren der Straße Am Teich blieb selbst für Fußgänger viele Wochen unmöglich. ... Sehr schwer gelitten hatte auch die Kieler Straße. ... Trümmer des Hamburger Engros-Lagers versperrten den Eingang zur Christianstraße, deren mittlerer Teil schon bei den Angriffen des Jahres 1944 vernichtet“ worden war.[67] Damit war die Benutzung der Hauptverkehrsstraßen im Zentrum von Neumünster unmöglich geworden.

Der ebenfalls von der War Crimes Group in Hamburg angeschriebene Gemeindedirektor von Einfeld (damals noch eine eigenständigen Gemeinde nördlich von Neumünster) teilte mit: „Es ist hier amtlich von Erschießungen von Häftlingen nichts bekannt. Auch sind derartige Fälle hier nicht beurkundet. Nach Auskünften von Einwohnern der Gemeinde Einfeld soll in der Nähe der Lederfabrik Quark [Kieler Straße 574] die Erschießung eines Häftlings stattgefunden haben. Personalangaben usw. über den erschossenen Häftling sind jedoch vollkommen unbekannt. Weitere Erschießungen sind nicht bekannt.“[68] Mit dieser Antwort gaben sich die Briten nicht zufrieden und schrieben ermahnend nach Einfeld zurück: „Wenn ein Häftling in der Nähe der Lederfabrik Quark erschossen worden ist, muss er ja auch irgendwo beerdigt sein.“ Der Gemeindedirektor stellte daraufhin weitere Nachforschungen an und konnte Ende April 1947 vermelden: „Nach Auskunft der Friedhofsverwaltung Neumünster soll am 3.5.1945 ein Unbekannter auf dem Friedhof in Einfeld begraben worden sein. Ob es sich in diesem Falle um den erschossenen Häftling handelt, ist sehr unwahrscheinlich, da der Gefangenenzug doch schon Mitte April 1945 durch Einfeld gekommen sein muß. Auch Erhebungen bei der Zivilbevölkerung blieben bisher ergebnislos.“ Aus diesem Grunde könne man auch keine Sterbeurkunde nach Hamburg übersenden, da damals keine ausgestellt worden sei.

Diese Hinhaltetaktik des Gemeindedirektors von Einfeld muss der Untersuchungskommission in Hamburg verdächtig vorgekommen sein, denn sie entsandte im Mai 1947 den 2 Lieut. C.R. Freud nach Einfeld, um den ehemaligen Friedhofsgärtner Gottlieb Philippczyk und die Anwohnerin Eliese Oetting zu befragen. Der Friedhofsgärtner gab zu Protokoll: „Es ist mir noch genau erinnerlich, dass ich an einem Sonntag im April 1945, das genaue Datum kann ich nicht angeben, den Platz für einen Toten auf dem hiesigen Friedhof angewiesen habe. Es handelte sich um eine Person, die auf einem Gefangenentransport in Einfeld erschossen wurde. Ob diese Person ein Ausländer oder ein Deutscher war, weiß ich nicht. Die Leiche, die auf Stroh auf einer Karre lag, wurde um die Mittagszeit [am 15. April] von dem ehemaligen Polizeiwachtmeister Höppner und anderen Polizisten auf den Friedhof gebracht. Die Leiche wurde in einem Grabe abseits beerdigt, in dem schon 4 russische Gefangene begraben lagen. Ich habe keine Todesurkunde oder sonstige Ausweispapiere über diese Leiche erhalten. Ich habe die Leiche des Häftlings in dem Kirchbuch als "Unbekannter" eingetragen.“[69]

Genaueres konnte die in Einfeld an der Kieler Chaussee wohnende Eliese Oetting berichten: „Im Monat April 1945 zogen mehrere Kolonnen KZ-Häftlinge [auf] der Reichsstraße von Richtung Neumünster nördlich herauf. Der Vorfall, an den ich mich erinnere, handelte sich um den letzten Transport der Häftlinge, die meines Wissens eines Sonnabends vorbeimarschierten. Der Sachverhalt war folgender: Gegen 15.00 Uhr nachmittags [am 14. April] sah ich von meinem Garten wie ca. 100 Häftlinge mit SS-Begleitung vorbeimarschierten. Als die Kolonne an dem Wendtsweg vorbeimarschierte, sah ich, wie 2 SS-Männer, die einen Häftling zwischen sich hatten, weg von der Kolonne den Wendtsweg herauf gingen. Ich ging wenige Minuten, es können nicht mehr als 3 oder 4 Minuten gewesen sein, in mein Haus und kam dann wieder heraus um zu sehen, wo die SS-Leute und der Häftling hingegangen waren. Von meiner Tür aus sah ich aber, daß die 2 SS-Männer ohne den Häftling der Kolonne schon wieder nachgingen. Ich ging hierauf den Wendtweg herunter und sah den Häftling in einer Entfernung von 100 m von der Hauptstraße in dem Weg liegen. Ich untersuchte den Häftling, stellte fest, daß er tot war und daß die Todesursache Genickschuß war. Obgleich ich nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob der Häftling ein Deutscher oder ein Ausländer war, bin ich der Meinung, daß er ein Russe war. Er sah typisch russisch aus. Er wurde am nächsten Tage vom Polizeibeamten [Höppner] abgeholt.“[70] Es erscheint einigermaßen problematisch, ob man das Verhalten der Frau Oetting als couragiert bezeichnen kann oder nicht. Ihre Aussage war jedenfalls sehr informativ und stimmte mit der Aussage des Friedhofsgärtners überein.

Der Polizeimeister Karl Höppner war bereits einen Tag vor Philippczyk und Oetting (an seinem neuen Wohnort in Itzehoe) vernommen worden. Seine Aussagen deckten sich mit denen der anderen beiden Zeugen. Höppner gab allerdings zu Protokoll, dass Frau Oetting (erst) am Sonntag, dem 15. April 1945, zu ihm gekommen sei, um den Vorfall anzuzeigen: „Die Leiche ist am nächsten Montag in Einfeld beerdigt worden. Obgleich ich an die Kreisverwaltung einen Bericht über diesen Vorfall erstattet habe, glaube ich nicht, daß sich eine Todesanzeige in Einfeld befindet. Dieses wurde wohl nicht gemacht, da ich die Nationalität, Religion und Namen des Häftlings nicht feststellen konnte.“[71]

Dem Gericht ist es nicht gelungen, die Identität des Opfers zu klären. Außerdem blieb die Frage unbeantwortet, zu welcher der drei (bzw. nur noch zwei) verbliebenen Marschkolonnen der Tote gehört hatte. Die Angeklagten konnten oder wollten sich an einen derartigen Vorfall nördlich von Neumünster nicht erinnern. Und deshalb gab es für Dr. Block als Verteidiger von Wilhelm Hennings auch keinerlei Zweifel, dass der Mord in Einfeld „can have no connection with the column of the defendant“. Der Anwalt war auch nicht um eine Lösung des Problems verlegen: „Another column must have been concerned. Also the Concentration Camp Neuengamme was being evacuated at that time to Kiel, partly marching on foot.“ Mit diesem Hinweis scheint sich das Gericht zufrieden gegeben zu haben. Eine genauere zeitliche Differenzierung wurde nicht vorgenommen, und vielleicht hat Dr. Block dem Gericht sogar wissentlich verschwiegen, dass der erste Evakuierungsmarsch von Neuengamme nach Schleswig-Holstein erst am 24. April 1945 begann.[72]

Eine Rast nördlich von Neumünster

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[65] Entsprechender Schriftwechsel in: WO 309/967.

[66] Sherman, S.128.

[67] Karl Barlach: Stadtchronik 1945, in: Als unser Leben Kleinholz war. Neumünster 1945 -1948, S.17.

[68] Entsprechender Schriftwechsel in: WO 309/967.

[69] Aussage von Gottlieb Philippczyk am 22.5.1947, in: WO 235/410 (Exhibit 27).

[70] Aussage von Eliese Oetting am 22.5.1947, in: WO 235/410 (Exhibit 25).

[71] Aussage von Karl Höppner am 21.5.1947, in: WO 235/410 (Exhibit 26).

[72] Katharina Hertz-Eichenrode (Hrsg.): Ein KZ wird geräumt. Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung. Die Auflösung des KZ Neuengamme und seiner Außenlager durch die SS im Frühjahr 1945, S.53.