War das "Ostarbeiter-Kinderheim" eine "Ausländerkinder-Pflegestätte"?
In den oben zitierten Sterbefallanzeigen für die in Wiemersdorf verstorbenen Kleinkinder findet sich siebenmal die Bezeichnung „Ostarbeiter-Kinderheim“. In den Unterlagen des Arbeitsamtes Neumünster wird über Nadeschda Rostowsky berichtet, dass sie am 6. September 1944 ihren Arbeitseinsatz im „Kinderheim für ausländische Kinder“ in Wiemersdorf angetreten habe. Die damals offiziell vorgesehene Bezeichnung „Ausländerkinder-Pflegestätte“ findet sich dagegen in keinem der (bisher) bekannten Dokumente.
Am 27. Juli 1943 wurden die „Richtlinien des Reichsführers SS [Heinrich Himmler] betreffend die Behandlung schwangerer ausländischer Arbeiterinnen sowie der im Reich von ausländischen Arbeiterinnen geborenen Kinder“ veröffentlicht. Anlass dafür war die stetig gestiegene Anzahl von Zwangsarbeiterinnen, die schwanger geworden waren und sich dadurch ein vorzeitiges Ende des Arbeitseinsatzes im Deutschen Reich erhofft hatten: „Ausländische Arbeiterinnen sind wegen eingetretener Schwangerschaft bis auf weiteres nicht mehr in die Heimat zurückzuführen.“[47] Deshalb musste nach Ansicht der Verantwortlichen auch das Problem der Entbindungen grundsätzlich geregelt werden: „Die Entbindungen sollen … tunlichst in besonderen Abteilungen der Krankenreviere in den Wohnlagern oder den Durchgangslagern stattfinden.“ Selbst die Aufnahme der Schwangeren „in eine Ausländer-Krankenbaracke bei einem deutschen Krankenhaus“ sollte nicht die Regel sein.
Grundsätzlich war für die ausländischen Schwangeren von den Behörden zu beachten, dass „die Trennung von deutschen Schwangeren gewährleistet“ ist.[48] Deshalb wurde weiterhin bestimmt: „Die von den Ausländerinnen geborenen Kinder dürfen auf keinen Fall durch deutsche Einrichtungen betreut, in deutsche Kinderheime aufgenommen oder sonst mit deutschen Kindern gemeinsam aufwachsen und erzogen werden. Daher werden in den Unterkünften besondere Kleinkinderbetreuungseinrichtungen einfachster Art – „Ausländerkinder-Pflegestätte“ genannt – errichtet, in denen diese Ausländerkinder von weiblichen Angehörigen des betreffenden Volkstums betreut werden. Dies gilt auch für die Landwirtschaft, in der „Ausländerkinder-Pflegestätten“ für die Ausländerkinder des gesamten Dorfes zu schaffen sind. … In Dörfern, in denen nur einzelne oder wenige Ausländerkinder vorhanden sind, [wird] öfter aus praktischen Gründen vorerst von der Errichtung einer „Ausländerkinder-Pflegestätte“ abgesehen werden können.“[49]
Die Aufsicht über die „Ausländerkinder-Pflegestätten“ wurde in den Dörfern, in denen die ausländischen Zwangsarbeiterinnen überwiegend in der Landwirtschaft tätig waren, dem „Reichsnährstand“ übertragen. Ansonsten war die Deutsche Arbeitsfront (DAF) für solche „Kinderheime“ zuständig. Es wurde auch daran gedacht, schwangere Ausländerinnen bzw. Ausländerinnen mit Kindern einer „Umvermittlung“ zu unterziehen, wenn es keine „Ausländerkinder-Pflegestätte“ in zumutbarer Nähe geben sollte. D.h. die Frauen wurden z.B. von ihrer bisherigen Arbeitseinsatzstelle in einem kleinen Dorf abgezogen und einem Landwirt in einer größeren Gemeinde zugewiesen.
Das „Ostarbeiter-Kinderheim“ in Wiemersdorf hätte durchaus auch die Bezeichnung „Ausländerkinder-Pflegestätte“ tragen können, da die vorgenannten Richtlinien vom 27. Juli 1943 weitgehend erfüllt waren: Wiemersdorf war ein relativ großes Dorf und konnte für die ländliche Umgebung eine Zentralitätsfunktion ausüben. Das „Kinderheim“ musste nicht kostenintensiv neu errichtet werden, sondern man nutzte ein abgelegenes Nebengebäude eines Industriebetriebes (hier einer Ziegelei). Eine Entbindungsstation hat es an diesem Ort aber offensichtlich nicht gegeben. In sechs Fällen ist nachgewiesen, dass die Mütter nicht in Wiemersdorf gearbeitet haben, sondern weiterhin an den Orten, denen sie zuerst zugewiesen worden sind: Brokenlande (2), Gadeland, Bimöhlen, Boostedt und Alveslohe.
Am 21. März 1944 hatte der „Reichsbauernführer“ die Landesbauernschaften in einem Rundschreiben „mit Weisungen für die Errichtung von Entbindungsheimen und Kinderpflegestätten versehen.“[50] Daraufhin informierte z.B. die Kreisbauernschaft Südtondern am 25. Mai 1944 darüber, dass hinsichtlich der „Unterbringung von Kindern Fremdvölkischer“ auf Anordnung der Landesbauernschaft entsprechende „Kinderbetreuungsläger … in jedem Kreis einzurichten“ seien.[51] Für den Standort Wiemersdorf kann also angenommen werden, dass er von der Kreisbauernschaft Segeberg festgelegt wurde. Auffällig an der Formulierung ist, dass auch hier die eigentlich vorgesehene Bezeichnung „Ausländerkinder-Pflegestätte“ fehlt. Es kann angenommen werden, dass sich die von Himmler gewünschte, aber insgesamt doch recht umständliche Bezeichnung „Ausländerkinder-Pflegestätte“ im Verwaltungsalltag nicht durchgesetzt hat. Der Begriff wurde von den Verantwortlichen nach eigenem Gutdünken umschrieben, jedenfalls ist bisher für Schleswig-Holstein kein Dokument gefunden worden, in dem er benutzt wird.
Abschließende Bemerkung und Danksagung
Den ersten Hinweis auf eine mögliche „Ausländerkinder-Pflegestätte“ in Wiemersdorf hat 1998 Rudolf S. auf dem Internetportal „Krieg gegen Kinder“ gegeben. Seine Angaben für die dortige Datenbank wurden später vom Autor durch Informationen aus dem Stadtarchiv Neumünster und vom International Tracing Service (ITS) in Bad Arolsen ergänzt. Im Jahre 2017 beschäftigte sich dann der Journalist und Historiker Helge Buttkereit mit den Ereignissen und wies in dem von ihm veröffentlichen Buch „Verdrängen, Vergessen, Erinnern“ darauf hin. Buttkereit ist es zu verdanken, dass wir die vielen Informationen aus den Sterbefallanzeigen (Standesamt Bad Bramstedt-Land) erhalten haben. Außerdem hat er sich umfassend mit dem Verbleib der verstorbenen Kinder auf dem Friedhof in Bad Bramstedt auseinandergesetzt.[52] Die Ausführungen des Autors sind dadurch wesentlich erleichtert worden. Gleiches gilt für die zahlreichen Hinweise, die der Autor von Pastor (i.R.) Bernd Hofmann (Bad Bramstedt) und von Frank Starrost (Wiemersdorf) erhalten hat.
Rudolf S. berichtete 1998 u.a. darüber, dass Bürgermeister Schümann gesagt haben soll: "Die Polaken kriegen Kinder, aber die sterben ja auch bald." Wenn dieses Zitat wirklich von Schümann stammt, dann erklärt sich vieles von allein. Die Identität von Rudolf S. konnte inzwischen geklärt werden: Es handelt sich um den in Wiemersdorf aufgewachsenen Rudolf Sommer, der später als Rechtsanwalt in Husum tätig gewesen ist. Sommer war im Jahre 1944 neun Jahre alt, 2004 ist er verstorben.[53] Sein Sozius in der Rechtsanwaltskanzlei beschrieb ihn folgendermaßen: „Er war ein sehr kritischer Mensch, der sich im positiven Sinne eingemischt hat.“[54] Leider gibt es zu wenige Mitmenschen mit dieser Eigenschaft.
Zurück © Uwe Fentsahm (Brügge, zuerst im Juni 2020)
[47] Documenta Occupationis X, hrsg. von Alfred Konieczny und Herbert Szurgacz, Poznan 1976, S.300.[48] Ebd., S.301.
[49] Ebd.; Heinrich Himmler hatte sich Ende 1942 eine „hochtrabende Bezeichnung“ für solche Kindersammelstätten gewünscht (Ulrich Herbert: Fremdarbeiter, 2. Auflage, Berlin-Bonn 1986, S.249).
[50] Zitat aus einem „Schnellbrief“ des GBA vom 24. Oktober 1944 an die Präsidenten der Gauarbeitsämter mit dem Betreff: „Behandlung schwangerer ausländischer Arbeiterinnen sowie der nichteinsatzfähigen Ausländer und der Ausländerkinder“, Bundesarchiv R 3901/20467, S.157. Eingeleitet wird das Zitat mit dem Hinweis: „Die Einrichtung der Ausländerkinderpflegestätten, insbesondere die Mittelaufbringung hat zu einer Reihe von Schwierigkeiten geführt.“
[51] Nils Köhler: Das Schicksal der „Ausländerkinder“ in Nordfriesland – eine historische Recherche, in: Zwangsarbeitende im Kreis Nordfriesland 1939-1945, hrsg. von Uwe Danker, Nils Köhler u.a., Bielefeld 2004, S.237.
[52] Helge Buttkereit: Verdrängen, Vergessen, Erinnern. Ein Wegweiser zu den Gedenkorten an die Opfer der NS-Zeit im Kreis Segeberg, Seedorf 2017, S.32 ff.
[53] Hinweis von Bernhild Vögel in einer e-mail vom 27. September 2019 an den Autor.
[54] Telefongespräch mit dem Autor am 27. September 2019.