Ehemalige Zwangsarbeiter aus Ulsnis: Vier Stationen Vergangenheit - Beobachtungen auf Reisen und daheim
(von Richard Krohn)

Frühling 2002 in Jedlicze, einer polnischen Kleinstadt ca. 220 Kilometer südlich von Lublin. Der Versuch, den Weg dorthin über kleinere Straßen abzukürzen, war vergeblich und hat uns einige Stunden Verspätung beschert. Vor der Tür des Wohnblocks Ul. Trzecieskiego 54 steht ein Mann mit Brille. Ich versuche mir das Foto in Erinnerung zu rufen, ein Bild, das - vor mehr als 57 Jahren aufgenommen - Piotr Reczek als Zwangsarbeiter in Ulsnis zeigt. Ich vergleiche: Ist er es? Ja. Und er erwartet uns. Bei allen unseren Besuchen von ehemaligen Zwangsarbeitern in Polen war die freudige Erwartung gegenwärtig, Besuch aus Deutschland, aus dem Ort ihrer Deportation zu erhalten.

Herr Reczek wurde Ende 1942 als 17-Jähriger auf der Straße von Uniformierten festgenommen und in ein Sammellager verbracht, seine spätere Frau gar in früher Morgenstunde aus dem Elternhaus verschleppt. Beide ohne Möglichkeit, persönliche Dinge mitzunehmen. Über weitere Sammellager führte der Weg ins Deutsche Reich. Die Frau kam nach Franken, der Mann über Neumünster und Eckernförde nach Ulsnis. Fragen: Wie wurden Sie behandelt? Wie waren Ihre Arbeitszeiten? Haben Sie mit dem Bauern am selben Tisch gegessen? - Nein, nur einmal, zu Weihnachten. Dann Gegenfragen: Woher mein Interesse stammt? Warum diese weite Reise nach Polen?

Begonnen hatte alles 1985 mit dem Kauf des Hauses, vor nunmehr 17 Jahren, in dem wir jetzt leben. Irgendwann erzählten die älteren Nachbarn, es sei während des Zweiten Weltkriegs Lager für Kriegsgefangene gewesen. Sie wiesen auf notdürftig geflickte Stellen im Mauerwerk beiderseits der Fenster hin, wo Gitter verankert gewesen waren. Vor dem Eingang hätte eine Wache gestanden. Wie wir später erfahren sollten, handelte es sich bei den Gefangenen tatsächlich um Zwangsarbeiter aus Polen, der Ukraine, Slowenien und Jugoslawien, die tagsüber in verschiedenen landwirtschaftlichen Betrieben tätig waren.[1]

Um die Erinnerung an die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wach zu halten und der hier tätig gewesenen Zwangsarbeiter zu gedenken, hatten wir am Haus am 2. September 2000 eine Gedenktafel angebracht. Gleichzeitig war unser Interesse gewachsen, noch lebende Zeitzeugen zu besuchen und zu befragen. Leider konnten wir bisher nur zu fünf von den über 120 im heutigen Bereich der Gemeinde Ulsnis tätig gewesenen Personen Kontakt aufnehmen - zu denen er, Piotr Reczek, eben gehörte. Ob er sich noch an Begebenheiten erinnere, an besondere Zwischenfälle, an weitere Mitgefangene? Nein, er hätte auch den anderen Zwangsarbeitern gegenüber immer großes Misstrauen gehegt, und die Erinnerung sei verblasst. Frau Reczek hat sich im Vorjahr ein deutsch-polnisches Wörterbuch gekauft. Warum? Sie lächelt.

Im Zug nach Torun, April 2002: Mir geht der Ablauf der Ereignisse durch den Kopf. Im Herbst 1997 hatten wir auf einer Dorfversammlung erstmals angefragt, ob die Gemeinde bereit sei, stellvertretend für alle in der Gemeinde tätig gewesenen Zwangsarbeiter eine Gedenktafel an unserem Haus anzubringen. Die Ablehnung war schroff und eindeutig gewesen, doch sie veranlasste uns, uns intensiver mit dem Thema hinsichtlich unserer Gemeinde auseinanderzusetzen. Mathias Schartl von der Kulturstiftung des Kreises Schleswig-Flensburg empfahl uns das Buch Verschleppt zur Sklavenarbeit , und es folgte die erste Kontaktaufnahme mit Gerhard Hoch.

1998 wurde ich in den Gemeinderat gewählt. Meine Fraktion brachte den Vorschlag, den ich auf der Dorfversammlung formuliert hatte, als Antrag ein. Die Mehrheitskoalition sah keinen Handlungsbedarf, verwies auf andere Zuständigkeiten. Da ich den Eindruck hatte, ein anderer Standort - das Haus gehörte der Familie des heutigen Bürgermeisters - für die Gedenktafel könnte zu einer Annahme des Antrags führen, zog ich ihn zurück. Aber auch der veränderte Antrag wird ein halbes Jahr später abgelehnt. Da die Gemeinde als Träger der Gedenktafel ausschied, suchten wir bei der örtlichen Kirche Unterstützung. Pastor Kummetz lehnte allerdings kategorisch ab.

Wir beschließen, die Gedenktafel jetzt selbst anzubringen und zu finanzieren und wenden uns erneut um Hilfe an Gerhard Hoch. Er will Informationen über die hier tätig gewesenen Zwangsarbeiter. "Woher?", lautet unsere Frage. Antwort: Aus dem örtlichen Melderegister der Gemeinde. Wir beantragen Einsicht. Das Amt Süderbrarup verlangt den Nachweis eines "Berechtigten Interesses" - wir erbringen ihn. Nun aber wird die Notwendigkeit eines "Öffentlichen Interesses" gefordert, um die Melderegister einsehen zu können. Über das Institut für Zeit- und Regionalgeschichte in Schleswig schalten wir das Innenministerium in Kiel ein. Schließlich - wieder ist ein halbes Jahr vergangen - erhalten wir eine Liste mit den Namen der Zwangsarbeiter, die in unserem Haus untergebracht waren - gegen eine Verwaltungsgebühr von DM 51,10.

Gerhard Hoch sagt später während der Gedenkfeier am 2. September zur Anbringung der Tafel: "In den Verwaltungen dieser Kommunen wurden mir die amtlichen Melderegister aus der Kriegszeit vorgelegt. Ich wurde nicht damit abgespeist, dass man mir lediglich die Namen der Zwangsarbeiter abschrieb, als sei ich unmündig. Ich durfte selber alle Eintragungen lesen und abschreiben. Und da gab es viel mehr zu lesen, als nur die Namen. Da gab es viele Auskünfte über die einzelne Person, z.B. ihre Herkunft, ihren Beruf, ihren Arbeitsplatz und ihre Unterkunft am Ort. Und da gab es Vermerke wie: abgeholt von der Gestapo , der Polizei übergeben, eingeliefert in das Gefängnis in Neumünster, geflohen u.ä. Da erfuhr ich vom Schicksal von Frauen, die schwanger angekommen oder am Ort schwanger geworden waren, und wie mit Mutter und Kind umgegangen wurde... Musste solches unbedingt den Bürgern von Ulsnis vorenthalten werden? Sollte für die Bürger dieser Gemeinde im Jahre 2000 kein berechtigtes, kein öffentliches Interesse gegeben sein, die ganze Wahrheit zu erfahren? In meiner nun schon 25-jährigen Forschungsarbeit zum 'Dritten Reich' habe ich noch nie erfahren oder gehört, dass eine Behörde für Auskünfte über Zwangsarbeiter auch noch Gebühren verlangt hat."[2]

Garwolin, 60 Kilometer vor Warschau. Hier in der Nähe wohnt Hipolit Pytlarczyk, der ebenfalls als Zwangsarbeiter in Ulsnis gewesen ist und von uns im Herbst 2000 besucht worden war. Herr Pytlarcyik hatte sich als 16-Jähriger 1941 freiwillig beim Arbeitsamt gemeldet. Für einen Besuch ist jetzt leider keine Zeit. Herr Pytlarczyk war im letzten Jahr zu Gast in Ulsnis, eingeladen mit finanzieller Unterstützung des Kreises Schleswig-Flensburg und auch formell durch unseren Bürgermeister.

Ich denke an den Bewusstseinswandel, der sich im Dorf vollzogen hat. Als die Vorbereitungen zur Gedenkfeier begannen, als durch die Presse bekannt wurde, dass in Ulsnis eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Zwangsarbeiter angebracht werden sollte, war die Empörung groß. Allein das Wort Zwangsarbeiter löste einen Sturm der Entrüstung aus. Das hätten sie, die Landwirte, nicht verdient, die Menschen seien anständig behandelt worden und hätten mit zu Tisch gesessen. Der Bürgermeister mutmaßte in einem Interview mit einer polnischen Korrespondentin, wir würden in Zukunft einen schweren Stand in Ulsnis haben: "Und wenn er das hier so durchzieht, und so kenne ich Richard und so schätze ich ihn ein, dass er die Tafel, wie sie in der Einladung formuliert war, ransetzt, dann denke ich mal, ist das Thema gelaufen in Ulsnis. Dann hat er auch einen schwierigen Stand in Ulsnis aus dem Grunde. Das müsste er eigentlich wissen. Damit soll er sich nicht unter Druck gesetzt fühlen. Er sollte das schon in seinem Stil machen. Nur bitte nicht in diesem Vokabular."[3]

Der Propst des Kirchenkreises, der zuvor einen Vertreter der Kirche entsenden wollte, bat um Verständnis, dass dieser nach empörten Telefonanrufen - Reaktionen auf unsere Postwurfsendung - sich nicht zu Wort melden würde. Allein der Landrat des Kreises Schleswig-Flensburg, Jörg-Dietrich Kamischke, antwortete unverzüglich auf die Einladung, versprach sein Kommen und wollte gern das Wort ergreifen. Im weiteren Verlauf der Vorbereitungen meldeten auch ein Vertreter des Polnischen Generalkonsulats und Frau Frantzen, die schleswig-holsteinische Ministerin für Ländliche Räume und Landwirtschaft, ihr Kommen an. Trotz dieser Erfolge kamen Ängste und Zweifel bei uns auf. Die Stimmung im Dorf war drohend. War der Terminus Zwangsarbeiter überhaupt richtig, oder waren es nur Kriegsgefangene, wie man behauptete? Arbeiteten wir nicht dem Ziel entgegen, Ängste abzubauen, damit sich ein jeder unserer Vergangenheit offen stellen kann? Fragen über Fragen.

Inzwischen hat man sich zumindest mit der Gedenktafel arrangiert, mit ihr zu leben gelernt. Und seitdem uns ein Landwirt - anfänglich ein erklärter Gegner der Formulierung Zwangsarbeiter - fragte, warum dort am Volkstrauertag keine Blumen lägen, seitdem liegen Blumen dort. Die Gemeindevertretung hat im Vorjahr der ältesten noch lebenden Zwangsarbeiterin, Frau Helena Witkowska, nach einstimmigem Beschluss 500 DM übersandt. Herr Pytlarczyk war eingeladen worden; weitere Adressen waren zu dem Zeitpunkt nicht bekannt.

Lipno, eine Kleinstadt bei Torun. Hier wohnt Zygmunt Wisniewski mit seiner Frau. Herr Wisniewski war mit Eltern und Geschwistern in der Gemeinde zur Zwangsarbeit. Im Gegensatz zu Herrn Reczek besitzt Herr Wisniewski noch zahlreiche Fotos, die - von ihm selbst aufgenommen - allen Umständen zum Trotz von einer guten Zeit in Ulsnis zeugen. Auch er hat Glück gehabt. Seine spätere Frau, die ihrer Arbeitgeberin in Danzig widersprochen hatte, war daraufhin ins KZ Stutthof eingeliefert worden. Immer wieder versuche ich Herrn Wisniewski Einzelheiten aus seiner Zeit in Ulsnis zu entlocken, doch auch hier hat die Zeit die Erinnerung getrübt. Dinge, die Frau Witkowska, die in der Gegend von Posen lebt, mir bei meinem Besuch erzählte, kann Herr Wisniewski nicht bestätigen: weder dass es ein Kinderlager mit polnischen Kindern in unserem Dorf gegeben hat,[4] noch dass es in unserem Haus - im Lager - zu dramatischen Zwischenfällen gekommen ist. Der Abschied ist herzlich, ein Wiedersehen versprochen. Vielleicht schaffen wir es, Herrn Wisniewski im Sommer einzuladen.

Auch in unserer Gemeinde hat es Fälle gegeben, die zu Verhaftungen bzw. zur Einlieferung in das Arbeitserziehungslager in Kiel-Russee führten und mit dem Tode eines der Betroffenen endeten.[5] Die Recherchen, um Einzelheiten zu erfahren, kommen allerdings nur schleppend voran. Noch immer haben wir den Eindruck, dass Vieles im Verborgenen gehalten wird. Persönlich haben wir die Melderegister nie einsehen dürfen. Bisher haben wir die Unterlagen der Kirchengemeinde nicht zu Gesicht bekommen. Das Grab von Ryszarda Klajna befindet sich auf dem Ehrenfriedhof Karberg - ihr genaues Schicksal ist nicht bekannt. Die Suche hat erst jetzt begonnen, und sie wird weitergehen.


[1] Die polnischen Kriegsgefangenen waren teilweise als Polen, Ukrainer oder Weißrussen aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und in so genannte zivile Arbeitsverhältnisse überführt worden (Siehe dazu die Entlassungslisten des Stalag XA für Ulsnis und Umgebung aus dem Museum für Kriegsgefangene in Lambinowice). Von nun an unterstanden sie nicht mehr der Kontrolle der Wehrmacht; sie durften aber auch nicht nach Hause zurückkehren.

[2] Redemanuskript vom 2.9.2000.

[3] Auszug aus einem Sendemanuskript von Johanna Skibinska für einen Beitrag des Deutschlandfunks in Polen.

[4] Nach dem Warschauer Aufstand wurden Frauen, Jugendliche und Kinder ins Deutsche Reich und auch nach Norddeutschland verschleppt.

[5] Detlef Korte, Erziehung ins Massengrab. "Die Geschichte des Arbeitserziehungslagers Nordmark" Kiel-Russee 1944-1945. Kiel 1991, S.272.

Der Autor

Richard Krohn, geboren 1953, ist gelernter Tischler und arbeitet als Restaurator für alte Möbel in Süderbrarup.

Eine identische Druckfassung dieses Beitrags erschien in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Nr.41/42 (April 2003), S.368-377. Sie umfasst dort neun Abbildungen.