Rade
Kriegsgefangenen-Arbeitskommando Nr. 1450 des Stalags XA

Wer heute auf der A7 den Nord-Ostsee-Kanal passiert, überquert automatisch die Rader Insel, die durch den Kanalbau von ihrer Heimatgemeinde abgetrennt wurde. Während des Zweiten Weltkrieges war dort im November 1941 nach einer Meldung des Kreisleiters der NSDAP Rendsburg an die Gauleitung in Kiel ein Arbeitskommando mit 24 Sowjetbürgern untergebracht.(1) Anschließend mussten Polen und Sowjetbürger als sogenannte Fremdarbeiter für das Zweigwerk der Ziegelei Carl Haunstein (Hamburg) dort arbeiten.(2)

Im April 1945 wurde das Arbeitskommando Nr.1450 des Stalags XA auf die Insel verlegt. Unter den 13 Franzosen befand sich Martial Villemin, der sich später in einem längeren Bericht an diese Zeit erinnerte.(3)Er schildert seine Zeit in der Kriegsgefangenschaft von der Gefangennahme über seinen Aufenthalt im Reservelazarett Schleswig bis zur Rückkehr in seine Heimat. Im Folgenden werden Auszüge, die den Alltag, die Hoffnungen und die Stimmung zum Kriegsende widerspiegeln, veröffentlicht:

„Auf der Rader Insel gab es lediglich eine Ziegelei (Zementfabrik) und das Haus des Besitzers (Herr Freytag und seine Familie) und einen ziemlich großen Bauernhof. Unser Kommando (die Nr.1450) musste in der Ziegelei arbeiten, aber diese lag still, wahrscheinlich wegen der knappen Versorgung mit Elektrizität. Wir wurden deshalb herangezogen, Sand aus der Kiesgrube zu holen. Wir wurden bei Herrn Freytag untergebracht und beköstigt. ..... Uns vorgesetzt war ein relativ alter, aus Hamburg stammender Unteroffizier (Kommandoführer genannt). Das war ein richtiger Nazi, der uns mit Vorliebe sein Parteiabzeichen zeigte, ein „Radfahrer“, wie man das nannte. Er sprach recht gut französisch. Er war nicht übereifrig, achtete aber darauf, dass alles „in Ordnung“ war. .....

22.April: Am Sonntag hatten wir kleinere Hausarbeiten zu verrichten: Saubermachen, Waschen. Wir fühlten uns recht isoliert ohne Nachrichten von der übrigen Welt. In der Nacht davor hatte es Fliegeralarm gegeben. Der Bewacher hatte uns nach draußen führen lassen. In Richtung Kiel beobachteten wir eine Bombardierung. Trauben von grünen Lichtern schienen am Himmel zu schweben. Das mussten Brandbomben sein, die beim Herabsinken sich teilten. Lichtstrahlen suchten den Himmel ab. Die Flak schoss dazwischen. Einem Flugzeug, das von einem Lichtstrahl erfasst wurde, gelang es zu entkommen. Man hatte uns gesagt, dass der Krieg noch heute zu Ende gehen würde. Das war, wie man vermutete, die Eingebung eines serbischen Generals.

23.April: Am Montag ging der Krieg jedoch weiter, wir waren enttäuscht. Wir mussten die Wasserlachen auf einem Weg auf der Insel trocken legen. Mittags gab es ausgekochten Pferdekopf. Wir fanden darin noch Teile von der Nase und sogar einen Backenzahn. Da das nicht die erste Pferdekopfsuppe war, die wir essen mussten, glaubten wir allmählich, dass man alle in der Gegend krepierten Pferde an uns verfütterte.

24.April: Am Dienstag wurde in der Nacht Rendsburg bombardiert. Zweimal bestiegen wir die Dünen. Von dort konnte man besser sehen, was in der Ferne passierte. Die Phosphorbomben kamen in Trauben runter und die Brände erhellten danach den ganzen Himmel. .....

28.April: Es ging das Gerücht, „sie“ sind nicht mehr weit. Man vermutete sie schon in Neumünster in 30 km Entfernung. Nur wenige Schiffe waren auf dem Kanal. Man erzählte, dass alle Schiffe, die in der Nähe ankerten, Dynamitladungen erhalten hatten, um sich im letzten Moment selbst zu zerstören. Unser Arbeitgeber, Herr Freytag, ließ uns einen überdachten Schutzraum in dem Hügel bei seiner Villa anlegen. Wir begnügten uns mit unserem Graben auf den Dünen.

3. Mai: Schnellboote und zwei U-Boote(4) kamen aus Richtung Kiel vorbei. Die Offiziere der Boote, die an der Insel festgemacht hatten , ließen Papiere verbrennen. Wir glaubten, dass unser Unteroffizier sich heimlich verdrücken würde. Wir beobachteten, dass sich die Matrosen Zivilkleidung anzogen. Wir machten große Wäsche. Gegen 16 Uhr rief uns der Unteroffizier zusammen, um sich zu verabschieden, wie er sagte. Zum letzten Mal grüßte er uns mit ausgestrecktem Arm mit „Heil Hitler“. Es bewegte uns trotzdem zu sehen, wie dieser alte Soldat bis zum Letzten seinen Kult ausübte .. Das war würdevoller als die betrunkenen Matrosen, die auf der Insel umherstreiften und schwankend ihrer Freude Ausdruck gaben. Unser Bewacher jedoch war am Abend stockbesoffen .. Das war weniger würdevoll.

4. Mai: Unser Bewacher war anscheinend immer noch da, aber er zeigte sich nicht. Vielleicht schämte er sich wegen des Besäufnisses am Vorabend. Wir fanden ihn jedoch tot. Er hatte sich eine Kugel in den Kopf geschossen. Unsere Lage war etwas komisch. Wir waren immer noch Gefangene, trotzdem aber frei in unseren Bewegungen.

5. Mai: Am Sonnabend weckte Herr Freytag uns freundlich, um uns mitzuteilen, dass der Waffenstillstand um 8 Uhr an diesem Morgen unterzeichnet worden war.



(1)LAS Abt.454 Nr. 4
(2)LAS 320 Rendsburg, Bündel 286, u.a. Nr.17
(3)Le lien Union Nationale des Amicales de Camps de Prisonniers de Guerre Nr.432/1987
(4)U 428 versenkte sich am 3.5.1945 vor der Rader Insel.