Die Toten von Kaltenkirchen (Freitag, 13. April 1945)

Das Ziel des ersten Marschtages war Kaltenkirchen. Hier sind offensichtlich alle vier Gruppen eingetroffen. Als Unterkünfte dienten die Scheune des Bauern Bernhard Möller in der Königstraße und (in direkter Nachbarschaft im Ortszentrum) die Durchfahrt und der Pferdestall von Hüttmanns Gasthof in der Schützenstraße.[46] Über die nachfolgenden Ereignisse berichtete Kurt Ewald: „Am nächsten Morgen in Kaltenkirchen konnten zwei der Häftlinge nicht mehr aufstehen. Es handelte sich hier um einen italienischen Arzt und um einen holländischen Lehrer. Als wir abmarschierten blieb der Wachtmann Hahn mit diesen allein zurück. Weiter blieb auch ein anderer Häftling, der ein Deutscher war und Schlenstedt hiess, in Kaltenkirchen zurück, da er auch nicht mehr laufen konnte. Hahn kam später auf einem Fahrrad unserem Transport nach. Schlenstedt sah ich einige Tage später in Kiel-Hassee wieder, die 2 Ausländer habe ich aber nie wieder gesehen. Ich hörte später sie seien von Hahn erschossen worden.“[47]

Diese Aussage erwies sich im Nachhinein zumindest in Bezug auf die Nationalitäten der Opfer als nicht zutreffend, sie wurde aber in anderen Teilen durch die Erklärung von Bruno Schlenstedt bestätigt: „In Kaltenkirchen schliefen wir auf einem Bauernhof auf einer Scheune. Am nächsten Morgen mussten wir antreten und es stellte sich heraus, dass ca. 3 oder mehr Leute in der Scheune liegen geblieben waren, da sie aus Krankheitsgründen nicht mehr weiter konnten. Ich selbst konnte auch nicht mehr weiter wegen einer Verletzung meines Beines und eines Schlages, den mir 1 holländischer SS-Mann versetzt hatte. Hahn sagte daraufhin, dass ich dann erschossen werden müsste. Ich sagte, tut es ruhig, dann ist jedenfalls alles zu Ende. Daraufhin sprach ich mit dem Transportführer [Hennings], aber der lehnte auch irgend welche Hilfe ab. Diese Unterredung hatte Hahn aus der Entfernung mit angesehen. Dieser nahm mich dann später [mit] in eine Wirtschaft [Hüttmanns Gasthof], hier wurde ich dann von einem älteren Polizeimeister übernommen, der mich dann später nach Kiel-Hassee beförderte. ... Kurz nachdem der Transport abmarschiert war, hörte ich einige Schüsse in der Scheune. Ich konnte die Scheune durchs Fenster von der Wirtschaft sehen. Die einzigste Person vom Transport ausser mir, die noch da waren, war Hahn. Dieser fuhr, nachdem die Schüsse gefallen waren, auf seinem Fahrrad hinter dem Transport her. Ich vermute, dass Hahn diese Erschiessungen vorgenommen hat, da ja sonst niemand vom Transport da war.“[48]

Der abschließenden Vermutung von Schlenstedt hat der Angeklagte Johann Hahn natürlich widersprochen. Er gab zu Protokoll: „Die ersten beiden wurden in Kaltenkirchen ... erschossen. Sie fehlten beim Appell und haben sich im Stroh versteckt. Hennings konnte sie nicht finden und überliess sie einem belgischen SS-Mann. Die Kolonne rückte inzwischen ab und ich blieb mit Schlenstedt, der nicht mehr gehen konnte, zurück. Der Belgier fand die Häftlinge [im Pferdestall] und erschoss sie. Danach folgte er der Kolonne. Er gab mir einen Zettel, auf dem die Namen und Personalien der Erschossenen standen. Dies geschah gegen 8 Uhr früh. Gegen 9.15 kam ein Polizeibeamter [Zienau] aus Kaltenkirchen. Ich übergab ihm die beiden Leichen und Schlenstedt. Ich gab ihm auch einen Zettel mit den Personalien der Erschossenen. Dieser Zettel war von mir unterschrieben. Danach folgte ich der Kolonne. Ich meldete Hennings, dass die Häftlinge erschossen worden sind.“[49] Es ist Hahn gelungen, dass das britische Militärgericht diese Version der Ereignisse von Kaltenkirchen als einigermaßen glaubwürdig anerkannte. Strafmildernd wurde ihm sogar angerechnet, dass er sich so „fürsorglich“ um den marschunfähigen Schlenstedt gekümmert hatte. Schlenstedt hatte sich auch gewundert: „Warum mir Hahn diese besondere Behandlung zu Teil werden liess, ist mir nicht bekannt.“ Dr. Hermann hatte sich als Verteidiger von Johann Hahn sogar die Mühe gemacht, eine maßstabsgetreue Zeichnung von Hüttmanns Gasthof anzufertigen.[50]

Die von Hahn vorgetragene Darstellung der Ereignisse deckte sich im Wesentlichen mit den Aussagen von Hennings: „Die erste Nacht verbrachten wir in Kaltenkirchen. Am nächsten Morgen blieben 3 Mann zurück. Hahn blieb zurück und es wurde mir später gemeldet, dass 2 Mann aus dem Stroh heraus geholt und erschossen wurden.“ Dass Hahn geschossen hatte, wollte Hennings nicht behaupten. Inwieweit die beiden ihre Aussagen während ihres gemeinsamen Aufenthalts im Internierungslager Munsterlager absprechen konnten, kann nur vermutet werden. Johann Hahn ist jedenfalls vom Gericht nicht direkt für die in Kaltenkirchen begangenen Morde verantwortlich gemacht worden. Daran konnte auch ein belastender Hinweis des Polizisten Zienau nichts ändern, denn Dr. Hermann als Verteidiger von Hahn wusste diesen geschickt zu entschärfen: „I fully realize that the statement made by the witness [Zeuge] Zienau before this Court is incriminating Hahn considerably. Zienau, however, did neither hear shots nor see with his own eyes the shooting of the two prisoners found later on dead in the horse stable.“[51]

[Grundrisszeichnung von Hüttmanns Gasthof mit Pferdestall als Tatort]

Gerhard Hoch konnte durch die Einsichtnahme in Unterlagen des Standesamtes Kaltenkirchen die Identität der beiden Toten klären. Es dürfte sich um die beiden Deutschen Josef Beck (geb. 1908 in Ober-Roden bei Frankfurt) und Hugo Kockendörfer (geb. 1910 in Rostock) gehandelt haben. In den zugehörigen Sterbeurkunden werden die beiden als „Sträflinge“ bezeichnet, die am 13. April 1945 um 9.30 Uhr in Kaltenkirchen „auf dem Transport“ verstorben seien. Über die näheren Umstände des Todes finden sich bei beiden keinerlei Hinweise. Ihre Gräber befinden sich noch heute auf dem Friedhof in Kaltenkirchen.[52]

Der Mord vor Bad Bramstedt

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[46] ebd.

[47] Beeidete Erklärung von Kurt Ewald, in: WO 235/410 (Exhibit 23).

[48] Beeidete Erklärung von Bruno Schlenstedt, in: WO 235/410 (Exhibit 24).

[49] Vernehmungsprotokoll Hahn, in: WO 235/410 (Exhibit 29) und Befragung von Johann Hahn, in: WO 235/409, S.114ff.

[50] WO 235/410 (Exhibit 45).

[51] Abschlussplädoyer für Hahn durch seinen Anwalt Dr. Hermann, in: WO 235/411.

[52] Hoch, S.310f.; Abschriften der Sterbeurkunden von Beck und Kockendörfer befinden sich in: WO 235/410 (Exhibit 3 und 4). Vgl. die entsprechende Darstellung der Ereignisse bei Korte (S.194).