Logistische Vorbereitung des Marsches

Der Angeklagte Otto Schütte erklärte am 28. März 1947 anlässlich seiner Vernehmung im „Special War Criminal Compound“ Munsterlager: „Ungef. Mitte April [1945] erhielt ich von Tessmann [Kommandant in Fuhlsbüttel] den Auftrag, einen Transport nach Kiel zu leiten. Unter mir hatte ich Polizei und Volkssturm Wachmannschaften. Tessmann sagte mir, dass Stange alle Transporte zu kontrollieren hatte und alle Vorkommnisse zu regeln hatte. Dazu wurde ihm ein Motorrad gegeben. Am nächsten Tag rückten wir aus. Vorher teilte ich den Gefangenen Tessmann's Befehl mit, dass alle Häftlinge, die zurück bleiben oder Fluchtversuche machen, erschossen werden müssen.“[25] Inwieweit dieser Befehl tatsächlich vom Leiter des Gefängnisses an die Transportführer weitergegeben worden ist, das war im Verlauf des Prozesses immer wieder umstritten.

Mr. Barnes vertrat als Ankläger die Ansicht: „While the men where lined up in the yard of Fuhlsbüttel Prison waiting to be marched off orders were given by Tessmann to the respective commandants of each convoy. The convoys left at an hour or so's interval from each other and those orders, as given to inmates [Insassen] of the prison on the march shortly after, were these, that all stragglers [Nachzügler] would be regarded as saboteurs and would be shot.“ Barnes erinnerte diesbezüglich auch an entsprechende Aussagen von ehemaligen Häftlingen, die in einer dieser Kolonnen mitmarschiert waren.[26]

Der Angeklagte Wilhelm Hennings bestritt, dass er als Transportführer diesen Befehl gekannt und die Gefangenen darüber informiert hätte. Anlässlich seiner Vernehmung in Munsterlager am 27. März 1947 erklärte er: „Ich war Transportführer auf einem Transport nach Kiel. Mein Stellvertreter war [Johann] Hahn und die Wachen waren Ausländer, zum größten Teil Belgier. Wir verließen Fuhlsbüttel mit 197 Mann und kamen in Kiel mit 189 an. Von denen, die abhanden gekommen sind, sind 5 Mann erschossen worden. ... Ich war Transportführer und als solcher für den Transport verantwortlich. Folgendessen auch für alle Ereignisse, die auf dem Marsch nach Kiel vorgekommen sind. Tessmann hat mir persönlich gesagt, dass Stange alle Transporte zu überwachen hat und sich für Verpflegung und Unterkunft der einzelnen Transporte zu kümmern hatte. Tessmann hat mir weiter persönlich gesagt, dass Stange den Auftrag hat, die Transporte mit seinem Motorrad zu überwachen.“[27]

Der Angeklagte Wilhelm Schulzke berichtete dem vernehmenden Offizier der War Crimes Group am 8. April 1947 im Gefängnis in Altona: „Ich leitete einen Transport von Fuhlsbüttel nach Kiel-Hassee. Dies war im April 1945. Ungefähr auf halbem Wege traf ich mit einem der anderen Transporte zusammen. Dieser wurde von Haak geleitet. Von da an übernahm Haak beide Transporte, da er einen höheren Dienstgrad als ich hatte. Ich ging weiter als Wachmannschaft mit. Bei unserem Transport wurde niemand erschossen. Ich hörte, dass in dem Transport von Hennings einige Häftlinge erschossen wurden.“[28] Somit scheint sich die Annahme von Prosecutor Mr. Barnes, dass es sich um drei bis vier verschiedene Gruppen gehandelt hat, zu bewahrheiten: Im Abstand von jeweils einer Stunde werden die vier von Schütte, Schulzke, Haak und Hennings geleiteten Transportkolonnen das Anstaltsgelände in Fuhlsbüttel verlassen haben. Unterwegs sind die Kolonnen von Schulzke und Haak zusammengetroffen und vereint weitermarschiert; der genaue Ort konnte bisher nicht lokalisiert werden. Gleiches gilt für die Kolonnen von Schütte und Hennings.[29] Es ist deshalb anzunehmen, dass am 15. April nur noch zwei eigenständige Marschkolonnen in Kiel-Hassee angekommen sind.

Der Angeklagte Hans Stange, der in Fuhlsbüttel bis zum Stellvertreter des Kommandanten Tessmann aufgestiegen war, hatte nicht nur den Transport der 71 Inhaftierten nach Neuengamme geleitet (s.o.), er musste bei seiner Vernehmung auch zugegeben, dass er sowohl in die Erschießung von 11 Russen im Februar/März 1944 als auch in die Erschießung von 5 Russinnen im November 1944 in Hamburg-Eidelstedt involviert war: „Ich erinnere mich jetzt, dass ich bei der Erschießung von den 5 Frauen dabei war. Die Frauen wurden in Fuhlsbüttel auf ein Auto geladen und wurden in dieselbe Grube geführt wie die 11 Männer. Sie wurden in dieser Sandgrube erschossen. ... Die Erschießung wurde von Beamten der Gestapo durchgeführt. Die betreffenden Gestapobeamten habe ich nicht gekannt.“ Über seine Rolle auf dem Evakuierungsmarsch nach Kiel ließ Stange verlauten: „Was die Kiel-Transporte anbelangt, war es meine Aufgabe, für den ersten Transport Quartiere zu suchen und dann alle Transporte [in Kiel] zu empfangen und sie dem Lagerkommandanten Sturmbannführer Post zu übergeben. Die Transportführer mussten sich bei mir melden und mir die Liste der Häftlinge übergeben. Die Ziffern stimmten mit denen in Fuhlsbüttel nicht überein. Mehrere waren entflohen, aber ein Teil war erschossen. Blomberg hatte angeordnet, dass Gefangene, die nicht mehr weiter gehen konnten, erschossen werden sollten.“[30] In gleicher Weise äußerste sich der angeklagte Gefängnisleiter Tessmann während des Prozesses: Der Befehl zur Liquidierung der nicht mehr Marschfähigen stamme nicht von ihm, sondern von dem Hamburger Gestapobeamten Blomberg. Hans Stange ist es immer wieder gelungen, seine Beteiligung an den genannten Vorfällen herunterzuspielen. Er sei nie direkt beteiligt gewesen, habe lediglich Quartiere gesucht oder Gefangene beim Transport an ihre Hinrichtungsstätten begleitet.

Abmarsch von Fuhlsbüttel (Donnerstag, 12.April 1945)

Zurück zum Inhaltsverzeichnis


[25] Vernehmungsprotokoll Schütte, in: WO 235/410 (Exhibit 11).

[26] Protokoll des ersten Prozesstages, in: WO 235/407, S.6.

[27] Vernehmungsprotokoll Hennings, in: WO 235/410 (Exhibit 12).

[28] Vernehmungsprotokoll Schulzke, in: WO 235/410 (Exhibit 9).

[29] Die Kolonne von Schütte soll unterwegs von Hennings mit übernommen worden sein: Hinweis des Anklägers Mr. Barnes beim Zusammenfassen der diversen Sachverhalte am 19. Verhandlungstag, in: 235/409, S.36.

[30] Vernehmungsprotokoll Stange, in: WO 235/410 (Exhibit 10).